Tauben - ein landwirtschaftliches Kulturerbe
Die heutigen Schweizer Taubenrassen sind im bäuerlichen Umfeld entstanden. Sie heute zu erhalten bedeutet, ein Stück landwirtschaftliches Kulturgut zu erhalten.
Tauben galten früher als durchaus reine und unbefleckte Geschöpfe. Dass in der Bibel Tauben als friedvolle Kundschafter und würdige Opfertiere erwähnt werden, zeugt von ihrem einstigen, hohen Status. Schon die Ägypter und später die Griechen und Römer betrieben Taubenhaltung. Letztere nannten den Taubenschlage «Columbarium» und den Taubenwärter «pastor columbarius». Im MIttelalter galt die Taube als «Herrgottsvogel», welche die Seelen der Verstorbenen in den Himmel trug und Haus und Hof vor Feuer und Blitzschlag schütze.
Was haben Tauben auf der Liste von ProSpecieRara verloren? Sind das denn Nutztiere?
Tauben sind sehr fruchtbare Tiere und wenn es ihnen gut geht, bescheren sie uns mehrmals im Jahr mit Nachwuchs. Früher war dieser auf den Höfen willkommen, weil Taubenfleisch eine Bereicherung des Speisezettels war - gerade auch in Krisenzeiten. So ist überliefert, dass «ein Taubenschlag auf dem Lande, zumal in solchen Dörfern, welche weit von Städten liegen, um desswillen einen ganz besonderen Werth hat, weil er frisches, wohlschmeckendes und gesundes Fleisch liefert, welches weit besser ist, als das, welches man mit bedeutenden Kosten aus der nächsten Stadt kommen lässt und im Sommer oft in einem keines Weges zum Genusse einladeneden Zustande erhält».
Dass die Tiere sich frei bewegen und einen Grossteil ihres Futters selber suchen konnten, war zusätzlich mit ein Grund für die einst weit verbreitete, bäuerliche Taubenhaltung. Nur während der Saatzeit wurde der Freiflug eingeschränkt. Mit dem Aufkommen der Mähdrescher und dem raschen Pflügen der Felder gingen die abgeernteten Getreidefelder als Nahrungsquelle verloren und immer mehr Höfe wurden taubenfrei. Vor der Industralisierung der Landwirtschaft jedoch, fanden Tauben über längere Zeit reichlich Futter auf den Getreideäckern, die nach und nach geerntet wurden, so dass es immer wieder frische Stoppelfelder gab, in denen sie nach liegengebliebenen Körner suchen konnten. So gehörte bis ins 19. Jahrhundert im Schweizer Mittelland noch zu jedem Bauernhof ein Taubenschlag, während das voralpine und alpine Weideland zuweing Nahurung für die Tauben bot.
Weil sich Tauben variabel zu sehr attraktiven Farbvarianten züchten lassen, entstanden in der Obhut von begeisterten Halter:innen über Jahrzehnte eine Vielzahl an regionalen Rassen, die zu einem einheimischen Kulturgut wurden. Nebst ihrem Fleisch und ihrem Zierwert für den Hof, nutzte man den Kot aus den Schlägen als wertvollen Dünger, dem man nachsagte, dass das mit ihm genährte Gemüse besonders schmackhaft werde. Im Zuge der Industrialisierung und marktorientierten Optimierung vieler landwirtschaftlicher Betriebe ist die bäueriche Taubenhaltung quasi verschwunden. Die vielen leerstehenden Taubenschläge unter den Scheunen- und Stalldächern erzählen von der einstigen Bedeutung der Tauben auf dem Bauernhof. Sie wiederzubeleben ist ein Ziel von ProSpecieRara.
Auch wenn heutzutage die Freude am Formen- und Farbenreichtum der Schweizer Tauben überwiegen, wird das Fleisch der Tauben auch heute noch gegessen und ist bei Kennern sehr beliebt. Es ist fettarm und aromatisch. So bekömmlich und gut verdau- und verwertbar ist es, dass man früher Kriesverwundeten, die nach dem Schlimmsten wieder feste Nahrung zu sich nehmen konnten, Taubenfleisch zur schonenden Stärkung servierte.
Das Schweizerische an den Schweizer Tauben
Der Taubenkenner Prof. Dr. Erich Weiss verfasste 1977 einen im Rassestandard erschienenen Artikel zum Wesen der Schweizer Taubenrassen. In diesem erklärt er aus seiner Sicht den Kontext, in dem die Schweizer Taubenrassen entstanden sind. Nachfolgend einige Auszüge aus seinem Text.
… Ende des 19. Jahrhunderts, als die Zucht von ausländischen Rassen mit hohem «Schauwert» auch bei uns aufgenommen wurde, hätte man die Schweizer Tauben «veredeln», abändern, aufgeben können. Doch ist dies nicht geschehen. Trotz all der importierten, wahrhaft verführerischen Taubenschönheiten haben die schlichten schweizerischen Mauerblümchen überlebt. Warum? Es sind bäuerliche Rassen, zu verstehen aus bäuerlicher Umgebung …
… Taubenzucht durfte keinesfalls mit viel Arbeit verbunden sein. So war die Pflege aller «schwierigen» Rassen ausgeschlossen, man brauchte Tauben, die fast wie wilde unbetreut gediehen, robuste, die an die Schlagverhältnisse geringste Anforderungen stellten, die ihre Jungen sicher aufzogen, ohne dass jemand sie päppelte …
… So hat die Natur selber die Auswahl getroffen und dem schweizerischen Bauer die Vorschrift gegeben, wie seine Tauben zu sein hätten. Sie hat ihn davon abgehalten, ihnen Formen und Farben zu geben, die sie den Feinden auffällig machten und im Fluge behinderten. Nur feine, gedeckte Farbspiele, tarnende Sprenkelungen, umrissauflösende Scheckung, den Luftwiderstand nicht vergrössernde Spitzhäubchen und Beinbestrumpfung liess die Natur zu, genug, um in klugen Menschen, die sich ins Gegebene schickten, gediegenen Geschmack entwickeln zu helfen …
… In der Schönheit der Schweizer Tauben drückt sich das Natürlich-Einfache aus, das Schlichte, Zurückhaltende, das Unauffällige, das Gediegene, das Scheu-Verhaltene, alles in allem jene Eigenschaften, die, wenigstens bis zur Schwelle unserer rapid alles verändernden Zeit, bezeichnend für den besten Teil der ländlichen Schweizer und Schweizerinnen waren …