Unsere Geschichte
Seit 1982 setzen wir uns für das Überleben von gefährdeten Nutztieren und Kulturpflanzen ein. Zur Pionierzeit konnte dies sogar bedeuten, Zuchttiere per Boot über den Walensee zu transportieren, um sie zu retten.
1982, schon viele Jahre, bevor der Begriff «Biodiversität» Eingang in den Sprachgebrauch fand, ziehen die ProSpecieRara-Pioniere um Hans-Peter Grünenfelder los, um die letzten Stiefelgeissen, Hinterwälder Rinder und Appenzeller Spitzhauben zu retten. Auslöser ist das Verschwinden der Freiburgerkuh, deren letzter Stier 1975 geschlachtet worden ist. Grünenfelder, damals Präsident der WWF-Sektion St.Gallen/Appenzell, erkennt, dass nicht nur Wildtiere, sondern auch Nutztierrassen bedroht sind.
Bald schon weitet sich das Tätigkeitsfeld auch auf Getreide, Gemüse, Kartoffeln und Obst aus. Anfangs sind es einige Begeisterte, die gefährdete Obstsorten in ihre Gärten aufnehmen oder von seltenen Gemüsesorten Saatgut gewinnen. In der Folge werden Muttergärten für das Obst und eine Samenbank – die Samenbibliothek – für Gemüsesorten aufgebaut. Ohne finanzielle Ressourcen aber mit umso mehr Enthusiasmus stöbert das wachsende Netzwerk überall in der Schweiz Sorten auf und kümmert sich um deren Erhaltung. 1988 wird der erste bezahlte Mitarbeiter engagiert und eine Koordinationsstelle in St. Gallen eröffnet. Trotz viel Enthusiasmus ist es keine einfache Zeit für ProSpecieRara. Die Stiftung gewinnt nur langsam an Bedeutung und wird von finanziellen Sorgen geplagt.
1996 wird der Globale Aktionsplan der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen) in Leipzig verabschiedet. Plötzlich wird die on-farm-Erhaltung – die Lebenderhaltung auf Bauernhöfen und in Gärten, das Erhaltungssystem also, das ProSpecieRara seit der Gründung betreibt – von der FAO beschrieben und als gleichwertige und bedeutende Ergänzung zum Ex-situ-Erhaltungssystem der Genbanken anerkannt. Und der Begriff «Agrobiodiversität» gelangt langsam ins Bewusstsein der Bevölkerung. Kurz darauf entwickelt die Schweiz den Nationalen Aktionsplan für die Erhaltung von pflanzengenetischen Ressourcen in Ernährung und Landwirtschaft (NAP-PGREL). An dessen Umsetzung arbeitet ProSpecieRara seither zusammen mit den weiteren Mitgliedern der SKEK (Schweizerische Kommission für die Erhaltung von Kulturpflanzen) aktiv mit.
1996 nimmt die Antenne romande, unsere westschweizer Geschäftsstelle in Genf, ihren Betrieb auf, 1997 folgt die Voce del Sud in Bellinzona (heute in San Pietro).
1999 ist ein wichtiges Jahr für ProSpecieRara. Einerseits startet die Zusammenarbeit mit Coop, einem unserer bis heute wichtigsten Sponsoren bzw. Partner. Andererseits ist es ab 1999 möglich, beim Bund sowohl im Tier- als auch im Pflanzenbereich Finanzierungsanträge für Förderprojekte einzugeben. Denn der Bund setzt bei der Umsetzung der Biodiversitätskonvention, welche die Schweiz 1994 ratifiziert hat, auch auf das Wissen und das Netzwerk von ProSpecieRara.
Die Vielfalt soll nicht nur bewahrt, sondern auch wieder in möglichst vielen Gärten und Ställen leben. Deshalb organisiert ProSpecieRara im Jahr 2000 den ersten Setzlingsmarkt auf Schloss Wildegg/AG. Heute strömen am ersten Wochenende im Mai jeweils über 10'000 Personen auf der Suche nach «ihren» Raritäten aufs Schloss. Über die Jahre sind weitere ProSpecieRara-Setzlingsmärkte in Zürich, Bern, Wil/SG, Chur, Weggis/LU, Vevey/VD, Vernier/GE, San Pietro/TI und Lugano/TI entstanden.
Seit 2005 wird mit der Schaffung des Gütesiegels der «Erhaltung durch Nutzung» noch stärker Rechnung getragen. Denn nur weil Tiere und Pflanzen genutzt wurden, sind die unterschiedlichen Rassen und Sorten überhaupt erst entstanden. Das ProSpecieRara-Gütesiegel garantiert, dass ein Produkt aus seltenen Sorten bzw. Rassen hergestellt wurde und sich der*die Produzent*in seriös mit deren Erhaltung beschäftigt.
Im gleichen Jahr findet im Obstsortengarten Zofingen auch der erste Reutenmarkt statt – eine Plattform, wo unsere Gütesiegelbetriebe ihre Produkte einem interessierten Publikum präsentieren. Der Reutenmarkt findet bis heute jeweils an einem Sonntag Mitte Oktober statt (siehe Kalender).
2007 gilt es, ein besonderes Augenmerk auf die bestehende Schweizer Saatgutverordnung respektive auf deren Umsetzung zu legen. Die Bundesbehörden kündigen nach einer Anfrage aus der EU nämlich plötzlich an, dass die Saatgutverordnung ab sofort wortgetreu und im Sinne des bestehenden EU-Saatgutverkehrsgesetzes umgesetzt werden soll. Dies ist der Moment für ProSpecieRara zu reagieren. Eine Umsetzung gemäss Wortlaut hätte bedeutet, dass Vieles, was ProSpecieRara bereits praktizierte, nachträglich hätte verboten werden müssen: Zum Beispiel das Inverkehrbringen von Sorten, die – wie die meisten ProSpecieRara-Sorten – nicht auf einer offiziellen Sortenliste stehen. Das hätte bedeutet, dass nicht bloss der Verkauf, sondern auch das Tauschen und Verschenken dieser Sorten nicht mehr legal gewesen wären.
Innert weniger Wochen stampfen wir die Kampagne «Vielfalt für alle» aus dem Boden, sammeln zusammen mit Partnern rund 20'000 Unterschriften und erreichen in Verhandlungen einen gut schweizerischen Kompromiss, der einerseits den Handel mit Nischensorten weiterhin erlaubt und andererseits den Amateurbereich, der bspw. unser Erhalter*innen-Netzwerk beinhaltet, von den Restriktionen ausnimmt. In der EU wird bis heute um einen solchen Kompromiss gerungen.
ProSpecieRara ist auch international als Vorreiterin auf dem Gebiet der nachhaltigen Nutzung von genetischen Ressourcen anerkannt und arbeitet in zahlreichen Projekten mit. Als Organisation aus einem Nicht-EU-Land ist jedoch nie ganz klar, ob und wie ein Mitwirken bei den europäischen Projekten überhaupt möglich ist. Um nicht plötzlich von Projekten ausgeschlossen und vom Wissenstransfer abgeschnitten zu sein, wird 2011 ProSpecieRara Deutschland als gemeinnützige GmbH gegründet.
Ende 2012 zieht der ProSpecieRara-Hauptsitz von Aarau, wo er seit 1999 beheimatet war, nach Basel und findet in den Merian Gärten nicht nur Büroräumlichkeiten, sondern hat auch die Möglichkeit, die Gemüse-, Zierpflanzen-, Obst- und Beerensorten, welche durch die Merian Gärten vor Ort angebaut und gepflegt werden, regelmässig zu sichten, zu testen, Saatgut zu ernten und auf Führungen Besucher:innen für verschiedene Tierrassen zu sensibilisieren.
Einen ausführlichen Rückblick auf die Jahre 1982-2017 finden Sie in der Jubiläumsausgabe unseres Magazins «rara»