Mit Hilfe eines Zuchtbuchprogramms kann für jedes Tier festgestellt werden, wie viele lebende Verwandte es aktuell hat. Das Programm berechnet deren Verwandtschaftsgrade und summiert sie zu einem Wert (siehe unten). Je mehr lebende Verwandte ein Tier also hat und je näher sie mit ihm verwandt sind, umso höher ist der Wert der genetischen Präsenz dieses Tiers. Die genetische Präsenz sagt also aus, wie stark oder schwach die Genetik eines Tieres im restlichen Bestand der Rasse vertreten und damit abgesichert ist und ist dadurch ein zentrales Werkzeug für die Generhaltung.
Tiere mit hoher genetischer Präsenz
Tiere mit hoher genetischer Präsenz sind Tiere, die viele lebende Verwandte haben und deren Erbgut darum verbreitet ist. Aus der Sicht der Generhaltung ist dafür zu sorgen, dass die Genetik dieser Tiere nicht überhandnimmt und seltenere Genetik verdrängt.
Genetisch stark vertretene Tiere sind häufig auch tolle Tiere mit perfekten Rassemerkmalen, idealem Körperbau und guter Gesundheit. Solche Tiere überzeugen und stehen bei Ausstellungen und Wettbewerben vorne in der Reihe. Von Siegertieren hat man gerne Nachkommen und so überrascht es nicht, dass solche Tiere und ihre Nachkommen hohe genetische Präsenzen haben. Und es überrascht noch weniger, dass es für die Zuchtleitung schwierig ist, hier zu bewirken, dass solche Tiere nicht zu stark eingesetzt werden und damit rare Genetik verdrängen.
- Männliche Zuchttiere mit hoher genetischer Präsenz sollten nicht mehr oder nur noch reduziert eingesetzt werden (z.B. in kleinen statt grossen Herden), weil sie ansonsten andere, seltenere Genetik verdrängen.
- Von Zuchttieren mit hoher genetischer Präsenz sollen möglichst keine oder nur kontrolliert männlichen Zuchttiere aufgezogen werden.
Tiere mit tiefer genetischer Präsenz
Tiere mit tiefer genetischer Präsenz sind Tiere, die keine oder wenige lebende Verwandte haben und deren Erbgut darum schwach vertreten ist. Bei ihrer Genetik besteht die Gefahr, dass sie ohne neue Nachkommen für immer verschwindet. Aus der Sicht der Generhaltung ist darum dafür zu sorgen, dass die Genetik dieser Tiere gefördert wird und sich damit wieder stärker in der Gesamtpopulation einer Rasse verbreitet. Genetisch schwach vertretene Tiere können in drei Gruppen eingeteilt werden:
Gruppe 1: Tiere, die selten sind, weil sie aufgrund ihrer Genetik schwach ausgeprägte Rassenmerkmale und körperliche oder gesundheitliche Schwächen aufweisen und man sie darum in der Zucht nicht oder nur eingeschränkt einsetzt.
Gruppe 2: Tiere, die selten sind, weil sie aufgrund nicht-genetischer Faktoren, wie z.B. zu extensiver Fütterung, zu frühem Decken von jungen Zuchttieren oder infolge suboptimaler Entwurmung Mängel aufweisen bezüglich Wachstum und Widerstandskraft und man sie darum in der Zucht nicht oder nur eingeschränkt einsetzt. Solche Tiere sind genetisch wertvoll, können ihr Potential aber aufgrund schlechter Umweltfaktoren nicht ausschöpfen.
Gruppe 3: Tiere, die selten sind, weil sie trotz guten züchterischen Werten aus diversen Gründen nicht oder nur schwach in der Zucht eingesetzt werden (Tierhalter züchtet nicht, Bock deckt jedes Jahr nur 2-3 Ziegen, etc.).
Die Regel «tiefe genetische Präsenz = unbedingt fördern» wäre also fatal, weil dabei auch Tiere gefördert würden, deren Genetik «zurecht» selten ist, nämlich die Tiere der Gruppe 1. Der Auftrag der Zuchtleitung und der Züchterinnen und Züchter ist, für die Generhaltung Tiere der Gruppen 2 und 3 ausfindig zu machen und zu fördern.
- Von solchen zuchtwürdigen Zuchttieren mit tiefen genetischen Präsenzen sollen bevorzugt Jungtiere als neue Zuchttiere nachgezogen werden.
- Besteht eine Auswahl an männlichen Zuchttieren, aus denen ausgewählt werden kann, sind diejenigen mit tiefen genetischen Präsenzen zu bevorzugen.
Was ist ein hoher und was ist ein tiefer Wert?
Anders als der Inzuchtwert, der durch die Geburt fix gegeben ist, ändert sich der Wert der genetischen Präsenz eines Tieres laufend, nämlich je nachdem, wie sich die Zahl seiner lebenden Verwandten verändert (Abgänge von Ahnentieren verkleinern den Wert und Geburten von neuen Verwandten erhöhen ihn). Der Wert muss darum immer wieder neu berechnet werden. Auskunft über die aktuelle genetische Präsenz eines Tieres erteilt die Zuchtbuchführung.
Da die genetische Präsenz eine Summe aller lebenden Verwandten eines Tieres ist und auch Blutanteile von fern verwandten Tieren miteinbezogen werden, gibt es in kleinen Populationen kleinere Werte als in grossen. In jeder Population berechnet die Zuchtleitung darum, was ein grosser, was ein durchschnittlicher und was ein kleiner Wert ist.
Bei den Saaser Mutten, einem Anfang 2019 noch jungen Projekt mit vielen Zuchttieren, von denen man keine oder lückenhafte Informationen über Ahnentiere hat, haben die Tiere (Stand Januar 2019) genetische Präsenzen zwischen 1 und 54. Der durchschnittliche Wert ist 8. Tiere mit Wert 1 sind Tiere, die ohne Ahnenangaben ins Zuchtbuch aufgenommen wurden und noch keine erfassten Nachkommen haben. Das Tier mit dem höchsten Wert 54 ist der Widder Fantom, der über längere Zeit in der grössten Saaser-Mutten-Herde eingesetzt wurde und viele Nachkommen zeugen durfte, die seine Genetik in sich tragen und weitervererben.
Während in beschriebenen Beispiel 8 ein Durchschnittswert ist, kann derselbe Wert in anderen Populationen etwas anderes bedeuten. Bei den Engadinerschafen z.B., die zu selben Zeitpunkt einen ca. sechsmal grösseren Gesamtbestand haben, umschreibt der Wert 8 eine seltenere Genetik. Es ist also wichtig, sich bei der Zuchtleitung zu informieren, welche Werte für die eigene Rasse als selten oder häufig gelten. Wann immer man die Wahl zwischen zwei Tieren hat, ist das Tier mit der tieferen genetischen Präsenz zu wählen.