Wenn es um Nutztierrassen geht, sind Menschen im Spiel. Denn nur, weil der Mensch die Tiere nutzte, entstanden über viele Generationen viele verschiedene Nutztierrassen. In der Zeit, als Engadinerschaf und Evolènerrind entstanden sind, waren sich die Züchter wohl weniger uneinig darüber, was die Rassen können sollten. Sie sollten unter den damaligen, rauen und extensiven Bedingungen und mit den eigenen Hofressourcen über möglichst viele Jahre möglichst gute Leistung bringen. Entstanden sind robuste, geländegängige und genügsame Mehrnutzungsrassen, denen Tierärzte äusserst selten und Vertreter von Futtermittelfirmen überhaupt nie über den Weg liefen.
Seither hat sich mächtig was verändert. Neben den alten, extensiven Landrassen sind moderne Leistungsrassen entstanden, die Spitzensportlern gleich, mit hohem Input an Futter, Stalltechnik und unter oft regelmässiger Begleitung durch den Veterinär erstaunliche Leistungen erbringen. Mit diesen Athleten können die alten Rassen bei Weitem nicht mithalten, hört man oft sagen.
Das stimmt natürlich, betrachtet man nur isoliert die Milchmengen, den Fleischansatz oder die Legeraten. Werden die Leistungen der Tiere jedoch in Relation zum Aufwand für Futter, Stalltechnik und Tierarzt gerechnet, wird berücksichtigt, dass die intensiven Leistungsrassen meistens deutlich kürzere Lebenszeiten haben und im Vergleich zu den extensiven Landrassen keine Mehrnutzungstiere sind, sondern nur entweder viel Fleisch oder viel Milch liefern, dann stehen die alten Rassen im Vergleich schon deutlich besser da.
Viele Züchter, viele Meinungen
Zurück zum Menschen, resp. zum Halter und Züchter alter Rassen. Wie in frühen Zeiten, ist auch heute eine Rasse das, was aus der Zusammenarbeit aller Züchter dieser Rasse hervorgeht. Will z.B. die Mehrheit aller Züchter einer Rasse schwerere Tiere, wird die Rasse immer schwerer, weil immer nur die schwersten Tiere für die Zucht selektioniert werden. Damit die Zucht in der Züchtergemeinschaft kontrolliert geschieht, werden darum die Eigenschaften der Rassen in sogenannten Rassestandards umschrieben. Jeder Züchter kann darin nachlesen, wie ein perfektes Tier der von ihm gezüchteten Rasse bezüglich Grösse, Gewicht, Form, Farbe und Leistung definiert ist und muss dies bei der Auswahl seiner Zuchttiere berücksichtigen.
Die Herausforderung dabei ist, dass die Züchterinnen und Züchter ihre Tiere heutzutage aus viel mehr Gründen halten und züchten, als dies früher der Fall war. So gibt es Menschen, die alte Rassen vor allem darum halten, weil sie von deren extensiven Eigenschaften überzeugt sind: Zwar nicht so voluminöse Lammkeulen, dafür ein perfektes Fleischaroma und keine Ausgaben für Sojamehl; nicht so schwere Lämmer, dafür einfache Geburten; nicht so grosse Rinder, dafür kein Umbau des alten Stalles. Daneben gibt es Züchter, die versuchen, auch mit alten Rassen eine gewisse Mast- oder Milchleistung zu erzielen. Sie sehen u.a. eine Chance darin, mit etwas intensiverer Fütterung aufzuzeigen, dass auch alten Rassen durchaus produktiv sein können und ihre Berechtigung haben. Daneben gibt es viele Tierfreunde, die gar keine landwirtschaftliche Produktion im eigentlichen Sinn betreiben, sondern Schafe und Hühner als Freizeitbeschäftigung züchten: zwar nicht so viele Eier, dafür wunderschöne Hennen; nicht so viel Milch, dafür keine Euterentzündungen, wenn nicht gemolken werden kann, sondern nur Mutterziegenhaltung praktiziert wird. Und dann gibt es sehr viele Menschen, die eine grosse Befriedigung darin sehen, mit ihrer Tierhaltung einen sinnvollen Beitrag an die Erhaltung einer gefährdeten Rasse zu leisten: zwar keine homogene Spitzenzuchtgruppe, dafür Tiere einer besonders seltenen und damit besonders bedrohten Linie; zwar längere Ausmastzeiten mit etwas verschieden schweren Masttieren, dafür Teil eines Erhaltungsnetzwerks.
Die Rassendefinition «Eine Rasse ist, wenn genügend Menschen sagen, dass es eine ist», birgt vor diesem Hintergrund also durchaus Diskussionspotential. Sollen die alten Landrassen mit ihren ursprünglichen Merkmalen erhalten werden oder sollen sie weitergezüchtet werden und wenn ja, mit welchen Zielen?
Museums- oder Leistungszucht bei alten Rassen?
Rassen waren nie starr, sondern haben sich immer weiterentwickelt. Will man alte Rassen erhalten, ist dem Rechnung zu tragen. Aber Vorsicht: die Strategie, dass gefährdete Rassen nur überleben, wenn ihre Leistung gesteigert werden kann, birgt Gefahren. Denn mit den heute möglichen Zuchtmethoden können sich Rassen sehr viel schneller weiterentwickeln als noch vor wenigen Jahrzehnten. Steht nur die Leistung im konventionellen Sinn im Zentrum, also Milchmenge, Milchgehalt, Legeleistung oder Mastleistung, so drohen andere ursprüngliche Merkmale und Eigenschaften für immer ausselektioniert zu werden. Soll die Stiefelgeiss plötzlich viel Milch liefern, verliert sie ihre Robustheit und wird für extensive Beweidungsprojekte uninteressant. Wird das Spiegelschaf einseitig auf seine Mastfähigkeit selektioniert, nehmen Geburtskomplikationen zu. Steht die Schönheit der Walliser Schwarzhalsziegen im Zentrum der Aufmerksamkeit, leidet deren Robustheit, weil für die Erreichung gewisser Zuchtziele wie z.B. sehr lange Haare, Inzuchtpaarungen gezielt durchgeführt werden.
Was jetzt also: museale Erhaltung oder Überleben dank Steigerung der Produktivität? Beides! Aber beides nicht im extremen, ausschliesslichen Ausmass. Denn wer zu sehr den alten Typ als Ziel vor sich hat, der vergisst, dass immer schon die schlechtesten Tiere aus der Zucht genommen wurden und verhindert, dass sich Rassen anpassen und weiterentwickeln können. Wer jedoch zu einseitig auf Produktivitätssteigerung setzt, verliert unterwegs zu seinem Ziel in anderen Bereichen. Denn die Leistung der Rassen gründet nicht nur in grossen Milch- und Fleischmengen, sondern ist ganzheitlich zu sehen:
- Produktion von Milch, Fleisch, Eiern, Wolle, Fellen, Honig
- Genügsamkeit, d.h. angepasste Produktion unter extensiven Bedingungen und mit Basisfutter
- Robustheit, Widerstandsfähigkeit, einfachte Geburten
- Geländegängigkeit, Trittsicherheit, gute Klauengesundheit
- Eignung für die Landschaftspflege
- Ästhetische und kulturelle Werte sowie die damit verbundene emotionale Ausstrahlung
- Genetische Variabilität innerhalb der Rasse
Immer wieder ist festzustellen, dass innerhalb der Züchterschaft Schwerpunkte im Hinblick auf das anzustrebende Zuchtziel gelegt werden. Frohwüchsigkeit, Mastfähigkeit, Fruchtbarkeit, Milchmenge, Euterform, Klauengesundheit und Zutraulichkeit gehören zu den Merkmalen, auf die z.T. einseitig selektoiniert wird. Gefährlich wird es dann, wenn zu stark fokussiert wird, denn dann droht Vereinheitlichung und Gendrift, also der endgültige Verlust von Genen.
Sensibilisieren für moderate Zuchtstrategien
Eine wichtige Aufgabe von ProSpecieRara bleibt darum, die Züchterinnen und Züchter immer wieder für die Generhaltung und damit für eine ausgeglichene Zuchtstrategie zu motivieren, damit die alten Rassen ganzheitlich erhalten werden können und ihre vielfältigen Eigenschaften auch künftigen Generationen verfügbar bleiben. Wir setzen uns darum auch auf Bundesebene dafür ein, dass z.B. bei der Festlegung der Tierzuchtstrategie durch das Bundesamt für Landwirtschaft der ganzheitlichen Erhaltung und Förderung der traditionellen Rassen Rechnung getragen wird und dafür Förderstrategien so konzipiert werden, dass möglichst viele Züchterinnen und Züchter mit ihrer Tierhaltung ein Teil davon sind.