Jetzt spenden für bedrohte Kräutersorten
Von Simone Krüsi, Redakteurin
Ein Spätwintertag am oberen Zürichseeufer. Die Glarner Alpen in der Ferne sind noch weiss, doch die Nachmittagssonne lässt bereits den Frühling erahnen. Die Reise führt nach Hombrechtikon in die Gärtnerei der Stiftung Brunegg. Hier wird eine der zwei Minzensammlungen von ProSpecieRara erhalten. Im Treibhaus, wo sich die Pflanzen zu dieser Jahreszeit befinden, reihen sich rund 40 Sorten Topf an Topf. Die Raritäten unterscheiden sich nicht nur in der Blatt- und Wuchsform, sondern auch deutlich in Geruch und Geschmack. Während die Sorten der Pfefferminze aufgrund ihres hohen Mentholgehalts eine gewisse Schärfe aufweisen, überzeugen die Krauseminzen mit einer frischen und süsslichen Note. Und das fruchtige Aroma der Orangenminzen entfaltet sich bereits, wenn man sanft über die Blätter streicht. «Die Palette an unterschiedlichen Düften bei den Minzen ist so gross, dass man wirklich ins Sammeln kommen kann», schwärmt auch Bernhard Karg, der für die Abteilung Stauden und Bodendecker der Stiftung Brunegg verantwortlich ist und die Sammlung betreut.
Sorten erzählen Geschichten
Und noch etwas unterscheidet die Sorten: Ihre einzigartigen Geschichten. Die Pfefferminze ‘Moospinte’ zum Beispiel: Sie stammt vom legendären «Chrüteroski», dem Koch des Gourmet-Restaurants Moospinte in Münchenbuchsee/BE. Nur schon das Haus hat eine bewegte Geschichte: Im Zweiten Weltkrieg hatte die Moospinte als Réduit für General Guisan und den Bundesrat gedient. Man stelle sich all die Gerichte und Getränke vor, in welche die ‘Moospinte’ Eingang fand. Oder die ‘Apothekerminze’ aus Zeinigen/AG: Sie verdankt ihren Namen dem Umstand, dass die Schwiegermutter des Apothekers die Pflanzen geschnitten und in die Apotheke gebracht hatte, wo sie ihre Dienste als Heilkraut tat. Minze soll bei Magen-Darm-Erkrankungen genauso helfen wie bei Atemwegsinfekten. Und schliesslich die ‘Poivrée de Corcelles’: Sie stammt aus einem Privatgarten in Corcelles-le-Jorat/VD und wurde dort seit den 1960er-Jahren kultiviert. Sie hat in vergleichenden Blindtests immer am besten abgeschnitten.
Sortenvielfalt unter Druck
Rund 150 verschiedene Kräutersorten hat ProSpecieRara in Erhaltung. Es handelt sich nebst Minzen vorwiegend um Rosmarin. Dass hier die heute noch vorhandene Sortenvielfalt grösser sei als bei anderen Kräuterarten, sei kein Zufall, sagt Lina Sandrin, Kräuterverantwortliche bei ProSpecieRara. «Rosmarin und Minzen sind langlebig und werden vegetativ – also über Teilung – vermehrt. Bei Kulturen, die über Samen vermehrt werden, ist die Sortenvielfalt mehr unter Druck: Die Tendenz, diese Pflanzen jedes Jahr neu zu kaufen, anstatt sie selber anzuziehen und zu vermehren, hat im Laufe der Zeit zu einem Sortenverlust geführt. Auf der anderen Seite konnte eben eine Minze oder ein winterharter Rosmarin ohne grossen Betreuungsaufwand in einem Garten Jahrzehnte überdauern.»
Sortenbewusstsein schaffen
Der Kräuteranbau erlebte in der Schweiz Anfang des 20. Jahrhunderts einen Aufschwung– insbesondere während der Weltkriegsjahre. Davor waren Kräuter oft als Wildpflanzen gesammelt oder auch aus dem Ausland importiert worden. Doch nun, während der Kriegsjahre, kam der Import zum Erliegen. Ab den 1980er-Jahren wurden dann vermehrt auch Sorten im Handel angeboten. Verschiedene Institutionen wie beispielsweise Agridea, Agroscope oder Hortus officinarum begannen, Kräuter-Anbauforschung zu betreiben und gezielt Wildpflanzen in Kultur zu nehmen. «Zu dieser Zeit entwickelte sich allmählich ein Sortenbewusstsein», konstatiert Lina Sandrin. «Es entstanden viele Sorten, auch lokal in Gärtnereien, die teilweise schnell wieder verschwanden. Das Ziel von ProSpecieRara ist es, erhaltungswürdige Sorten zu erkennen, sie vor dem Verschwinden zu bewahren und anschliessend mehr über ihre Eignung herauszufinden.»
Minutiöse Katalogrecherche
Doch wie kommt man zu neuem Wissen über Sorten? Wie erfährt man, welche Sorten es überhaupt gibt und welche zu verschwinden drohen? Dahinter steckt zuallererst eine gute Portion Katalogrecherche. «Wir sind aktuell daran, alte Kataloge von Gärtnereien und Saatgutproduzenten in unsere Datenbank einzuspeisen. Sie geben Aufschluss darüber, welche Sorten es früher gab und wo sie im Handel waren», sagt Lina Sandrin. Parallel dazu werden aktuelle Kataloge durchforstet, um das heutige Angebot zu monitoren und frühzeitig zu erkennen, wenn eine Sorte rarer wird.
Um die Kräutersorten, die ProSpecieRara in Erhaltung hat, besser kennenzulernen, sollen künftig vermehrt auch Vergleichssichtungen und Degustationen durchgeführt werden. Bei ersteren werden unterschiedliche Sorten oder Sortenherkünfte nebeneinander angepflanzt und können so miteinander verglichen werden. Wie unterscheiden sich Wuchsform, Blütezeitpunkt etc.? «Manchmal erweisen sich zwei vermeintlich eigenständige Sorten auch als nicht unterscheidbar. Dann legen wir sie zusammen», erläutert Lina Sandrin.
Tessiner Landsorten
Dies ist gerade beim Rosmarin ein Thema. Denn im Unterschied zu den meisten Minzen gibt es beim Rosmarin der ProSpecieRara-Sammlung nicht eigentliche Sorten. Man spricht hier von Landsorten oder Herkünften. Sie haben sich an einem bestimmten Standort im Laufe der Jahrzehnte oder Jahrhunderte entwickelt – durch Umweltselektion oder durch unbewusste oder auch bewusste Selektion der Menschen, die sie kultivierten. Sie sind gut an die ökologischen Bedingungen ihres Entstehungsortes angepasst. Die Rosmarin-Landsorten, welche sich in der Obhut von ProSpecieRara befinden, tragen deshalb auch den Namen ihres Herkunftsortes. Es sind meist Tessiner Gemeinden. Rosmarin kommt zwar vorwiegend im mediterranen Raum vor – sein lateinischer Name «rosmarinus» bedeutet übersetzt «Tau des Meeres» –, doch in Wildform ist er ebenfalls in der Südschweiz anzutreffen. Dort, im Tessin, sind auch die ProSpecieRara-Rosmarin-Sammlungen beheimatet. Und dort ist das Kraut auch ein fester Bestandteil der Küche und verfeinert mit seinem würzig-herben Aroma viele typische Gerichte. Darüber hinaus wirkt Rosmarin belebend und verdauungsfördernd. Er lässt sich gut trocknen und die Pflanzen wachsen über die Jahre zu kräftigen Büschen heran.
Insekten lieben Kräuter
Und diese Büsche haben einen weiteren Vorteil: Sie werden in der Blütezeit zu wahren Insektenmagneten. Ein Aspekt, der Lina Sandrin am Herzen liegt: «Die Lippenblütler (Lamiaceae), wozu auch Rosmarin und Minzen zählen, werden gerne von Insekten angeflogen und bieten ihnen wertvolle Nahrung.» Und auch Bernhard Karg von der Stiftung Brunegg meint: «Wenn die Minzen blühen – unsere Sammlung in einem Spektrum von weiss, rosa bis hin zu lila –, ist das nicht nur fürs menschliche Auge, sondern auch für die Bienen und Schwebfliegen immer sehr schön.»
ProSpecieRara setzt sich dafür ein, dass auch in der Kräuterwelt die Vielfalt erhalten bleibt. Lina Sandrin würde künftig gerne noch mehr Arten unter ihre Fittiche nehmen. «Es gäbe noch viele andere Kräuter, die zu untersuchen und zu bewahren interessant wären. Thymian, Salbei oder auch unbekanntere wie Schabzigerklee oder Löffelkraut. Es ist eine Vielfalt, die genetisch wertvoll ist und die immer auch Geschichten erzählt.» Geschichten von Orten und von Menschen, die sich der Kräuter angenommen haben und sie in ihren Gärten hegten und gedeihen liessen. Die mit ihnen kochten, sich und andere gesund pflegten und ganz nebenbei dazu beitrugen, dass auch die Insekten ihre Nahrung fanden.
Wie komme ich zu ProSpecieRara-Kräutern?
Die Minzensammlungen von ProSpecieRara befinden sich in der Kulturgärtnerei Homatt in Ruswil/LU sowie in der Stiftung Brunegg in Hombrechtikon/ZH. Bei beiden Betrieben ist eine Auswahl der Sorten auch im Verkauf erhältlich. Die Rosmarinsammlungen stehen im Tessin, einerseits in der Azienda agraria cantonale di Mezzana in Coldrerio, andererseits in der Fondazione Orchidea in Riazzino. Sie befinden sich im Aufbau und sind noch nicht käuflich zu erwerben.
Übrigens: Ab Mai sind in grösseren Jumbo-Verkaufsstellen ProSpecieRara-Minzen von der Stiftung Brunegg erhältlich. Sie tragen das Label «Solidarité».
Doppelt abgesichert
Sowohl bei der Minzen- als auch bei der Rosmarinsammlung handelt es sich jeweils um eine Primärsammlung und um eine Duplikatsammlung. Das heisst, an zwei Standorten werden die gleichen Sorten erhalten. So sind die Pflanzen besser abgesichert und die Betriebe können sich gegenseitig aushelfen, sollte eine Sorte ausfallen.
Minze ist nicht gleich Minze
Innerhalb der Gattung Mentha werden drei Arten unterschieden: Die Grüne Minze (auch Krauseminze genannt), die Rundblättrige Minze und die Pfefferminze. Letztere – wohl die bekannteste – entstand Ende des 17. Jahrhunderts in England aus einer spontanen Kreuzung zwischen der Wasserminze und der Rundblättrigen Minze. Sie wurde von Ärzten im 18. Jahrhundert nach Mitteleuropa eingeführt und hat sich zu einer der meistverwendeten Arzneipflanzen entwickelt. Die ProSpecieRara-Minzensammlung umfasst 23 Pfefferminzsorten, 13 Sorten der Grünen Minze und fünf Sorten der Rundblättrigen Minze.