«Blutlinien»

Über Sinn und Unsinn von «Blutlinien» ...

Wo gezüchtet wird, kursiert nicht selten der Begriff der «Blutlinie». Diese soll Auskunft darüber geben, von welchen Ahnentieren ein Zuchttier abstammt. «Das ist ein Jungwidder der seltenen B-Linie» hört man da einen Züchter sagen. Er taufte ihn Baristo, da sein Vater Benno hiess und dessen Vater wiederum Basilico. So weit, so gut. Züchterinnen, die den Grossvater Basilico kannten, erhalten mit der Information, dass Baristo zur B-Linie gehöre, die Information, dass einer der Grossväter von Baristo Basilico war. Aber wie wertvoll ist diese Information für die Zuchtplanung? Verschafft die «Blutlinie» wirklich eine Übersicht darüber, aus welcher «genetischen Ecke» das Tier innerhalb des Gesamtbestandes stammt?

Züchter, die keine detaillierten Einsichten in die Zuchtbuchdatenbanken haben, erhoffen sich zuweilen mit dem Blick auf die «Blutlinie» eine genetische Information zu erhalten. Diese ist jedoch mit äusserster Vorsicht zu behandeln.

Wirbeltiere erhalten von der Mutter und vom Vater je einen Gensatz. Sie sind genetisch gesehen also «halb Mutter und halb Vater». Mit dieser Tatsache vor Augen wird klar, dass der Begriff der «Blutlinie» nicht wirklich aufgehen kann, denn mit jeder neuen Generation halbieren sich die Anteile der Gene der Ahnen. Folgende Grafik verdeutlicht, dass Baristo nach drei Generationen noch 12.5 %, also nur noch einen Achtel der Genetik seines Urgrossvaters Boston in sich trägt. Baristo als «B-Linien-Widder» zu bezeichnen, obwohl er vom «B-Linien-Gründer» Boston lediglich noch einen Achtel der Genetik in sich trägt, umschreibt also vor allem einen Teil seiner Zuchtgeschichte und weniger seine effektive Genetik.

Das Arbeiten mit «Blutlinien» hilft uns also bei der Einschätzung, mit welcher Genetik wir es zu tun haben, nicht wirklich weiter. Noch klarer wird es, wenn wir in unserem Beispiel mit Baristo nachrechnen, wie viel Genetik er von seinen anderen drei Urgrossvätern in sich trägt: gleich viel, wie von Boston. Setzt man Baristo in der Zucht ein, wird also sowohl die Genetik des Urgrossvaters Boston, als auch diejenige der drei anderen Urgrossväter Eiger, Sämi und Hervé gefördert, und zwar statistisch gesehen genau gleich stark.

«Blutlinie» als Grundlage für die Zuchtplanung: Nein!
Das Arbeiten mit «Blutlinien» macht über eine Generation Sinn (Baristo ist der Sohn von Benno), gibt aber schon nach zwei Generationen deutlich weniger wertvolle Informationen (Baristo ist zwar der Enkel von Basilico - er ist aber in gleichem Mass auch der Enkel seines zweiten Grossvaters). Die Zuchtplanung muss also auf jeden Fall immer auch aufgrund anderer Informationen, wie z.B. des Inzuchtwertes der Nachkommen und der «genetischen Präsenz» der Tiere (Seltenheit der Genetik eines Tiere innerhalb des Gesamtbestandes), erfolgen. Diese Werte sind nur mit Hilfe von Zuchtbuchprogrammen berechenbar.

«Blutlinien» und Namensgebung der Tiere
Es gibt verschiedene Arten der Namensgebung bei Nutztieren:

  • Freie Namensgebung: Die Züchterinnen sind völlig frei beim Vergeben von Namen. Dies erlaubt maximale Kreativität bei den Namen.
  • Zoosystem: Alle im selben Jahr geborenen Tiere erhalten Namen mit gleichem Anfangsbuchstaben, die Tiere im darauffolgenden Jahr bekommen einen Namen mit dem im Alphabet folgenden Anfangsbuchstaben. Dies ermöglicht Rückschlüsse auf das Alter der Tiere.
  • «Blutlinie»-System: männliche Nachfahren erhalten den Anfangsbuchstaben des Vaters, weibliche denjenigen der Mutter. Dies sagt aus, mit welchem Buchstaben der Name des Vaters resp. der Mutter begann.

Aus den oben erwähnten Gründen bevorzugen wir die beiden ersten Arten der Namensgebung, da sie nicht dazu verführen, im System der «Blutlinien» zu denken und damit verhindern, dass Verwandtschaftsbeziehungen falsch wahrgenommen werden. Den Jungtieren Namen mit Anfangsbuchstaben der Elterntiere zu geben hat aber auch eine kulturelle Tradition. Ist man sich der schwachen genetischen Grundlage des «Blutlinie»-Konzepts bewusst und lässt man sich bei der Zuchtplanung nicht von ihm leiten, ist nichts gegen diese Tradition der Namensgebung einzuwenden.