von Simone Krüsi, Redaktorin
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Daniel Sutter, der die Baumschule Toni Suter mitleitet, stapft voraus durch die Baumreihen und schiebt die Äste zur Seite. Hier, etwas ausserhalb von Baden, liegt der Edelreiserschnittgarten – ein unscheinbares Feld, das eine Vielfalt beherbergt, die sich einem nicht auf den ersten Blick erschliesst. In Reih und Glied stehen grüne Bäumchen, einjährige, zweijährige, bis hin zu gut sechsjährigen. Die ältesten muten eher wie Kopfweiden an: Vom Stammende zweigen zahlreiche einjährige Triebe, sogenannte Reiser, in alle Richtungen ab. „Wir schneiden die Bäume jedes Jahr ziemlich stark zurück, um die Reiserproduktion anzukurbeln“, erklärt Dani Sutter die eigenwillige Baumform, zwickt einen Trieb ab und entfernt die Blätter. Ein paar gekonnte Handgriffe später hält er mir das Herzstück der Vermehrung hin: Aus diesem Hölzchen mit zwei Knospen wächst, nach gelungener Veredelung, ein neuer Baum. Obstsorten müssen, mit wenigen Ausnahmen, vegetativ (durch Klonen) vermehrt werden. Nur so kann die Sortenechtheit garantiert werden. Das Handwerk des Veredelns, bei dem das Edelreis auf eine Unterlage gepfropft wird und daraus ein Jungbaum wächst, ist relativ anspruchsvoll, kann aber gut erlernt werden (siehe unsere Kurse).
Der Edelreiserschnittgarten als Lebensretter
In der Baumschule geht beim Veredeln selten etwas schief. Und das kann für Sorten manchmal überlebenswichtig sein. In Reihe 9 treffen wir Gertrud Burger, Leiterin Pflanzen von ProSpecieRara, die den Edelreiserschnittgarten vor zehn Jahren konzipiert und mitaufgebaut hat. Sie begutachtet zufrieden ein Kirschbäumchen. Seit es im letzten Jahr veredelt wurde, hat es kräftig zugelegt. „An diesem Baum lässt sich die Bedeutung des Edelreiserschnittgartens gut veranschaulichen“, meint sie. „Im Obstsortengarten Zofingen gibt es einen uralten, absterbenden Kirschbaum der Sorte ‘Schwarze Emmentaler‘. Es war der einzige uns bekannte Baum dieser Sorte. Quasi im letzten Moment konnte ich ein Zweiglein hoch oben aus dem Geäst schneiden und hierhin bringen. Dank der professionellen Arbeit der Baumschulisten gedeiht die Sorte nun gut und kann weitervermehrt werden.“ Der Edelreiserschnittgarten dient nicht nur der Produktion von Pflanzenmaterial, sondern auch der Zwischenabsicherung von Sorten, die stark gefährdet sind. Insgesamt beherbergt er rund 550 Sorten, mehrheitlich Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen. Rund ein Drittel der Sorten befinden sich auf der Roten Liste und gelten als sehr selten. Ein Grossteil der Sorten, die im Edelreiserschnittgarten wachsen, lassen sich direkt über die Baumschule als Jungbaum oder über den Sortenfinder von ProSpecieRara als Edelreis bestellen.
Sortenechtheit und Pflanzengesundheit
Gertrud Burger und Daniel Sutter stehen in der Zwischenzeit vor einem Sortenschild, das ausgewechselt werden muss. „Ein weiteres wichtiges Element unserer Arbeit ist die korrekte Sortenansprache“, erklärt Burger. Alle Bäume werden mittels molekulargenetischer Analyse auf ihre Sortenechtheit geprüft und in regelmässigen Abständen auch von der Pomologischen Kommission (PomKom). Die renommierten Sortenexpert:innen der PomKom aus dem deutschsprachigen Raum begutachten zweimal jährlich Fruchtmuster, identifizieren bisher unbekannte Sorten und decken auch Verwechslungen auf. Diese Erkenntnisse fliessen in den Edelreiserschnittgarten ein. „Es kommt vor, dass wir eine Sorte mehrere Jahre hier haben und sich dann in der PomKom herausstellt, dass es sich beispielsweise um eine belgische Sorte mit anderem Namen handelt“, erzählt Sutter. „In der Schweiz war sie aber hundert Jahre unter hiesigem Namen bekannt. Dann stellt sich die Frage: Welchen Namen wollen wir nun verwenden? Den original belgischen, der eigentlich korrekt wäre, oder den hier seit hundert Jahren gebräuchlichen? Oder beide?“ Die Nomenklatur, die Festlegung der Sortennamen, ist aufwändig und manchmal ist es bis zum definitiven Namen ein langer Weg.
Der Edelreiserschnittgarten als Zellkern
Was mit dem Edelreiserschnittgarten erreicht werden soll, ist gleichermassen simpel wie anspruchsvoll: ein gesundes Angebot an überprüften, seltenen Sorten, die für alle zugänglich sind. Der Aufbau des Schnittgartens ist abgeschlossen, doch die Arbeit bleibt. Denn Vielfalt zu erhalten ist nichts Starres, sondern sehr dynamisch. „Zu Beginn beschäftigte uns stark die Sortenwahl, in den letzten Jahren vermehrt die Qualitätssicherung mit neuen Erkenntnissen zu den Sorten und allfälligen Ersatz- oder Ergänzungspflanzungen“, konstatiert Gertrud Burger. Seine Bedeutung sei elementar. „Für mich ist der Edelreiserschnittgarten eine Art Zellkern – ein Steuerzentrum für seltene Obstsorten, wo wichtige Prozesse zu deren Verbreitung und Erhaltung stattfinden und vorangetrieben werden.“
Interview
„Wir sensibilisieren aus Überzeugung für die alten Sorten“
Daniel Sutter arbeitet seit 21 Jahren bei der Baumschule Toni Suter und hat den Aufbau des Edelreiserschnittgartens von der Pike auf begleitet.
Was macht den Edelreiserschnittgarten aus eurer Sicht aus?
Einzigartig ist eindeutig die Vielfalt, welche die alten Sorten in sich tragen. Die neuen Sorten gehen alle auf dieselben fünf, sechs Sorten wie ‘Cox Orange‘, oder ‘Golden Delicious‘ zurück. Bei uns haben wir eine breite Vielfalt an Fruchtformen und Geschmacksrichtungen. Man sieht es am Wuchs, auch die Anfälligkeiten sind sehr unterschiedlich. Die alten Sorten sind nicht per se robuster als die neuen, welche aber alle eine ähnliche Genetik aufweisen. Bei den alten Sorten hingegen lässt sich viel entdecken. Nehmen wir eine alte Apfelsorte, die gegen Feuerbrand tolerant ist: Von der Fruchtqualität her ist sie vielleicht ein Mostapfel und geriet darum auch in Vergessenheit. Durch diese Toleranz wird sie plötzlich wieder interessant, beispielsweise für die Züchtung neuer Sorten. Dies macht die Erhaltung der genetischen Ressourcen auch so wichtig.
Welche Bedeutung hat der Edelreiserschnittgarten für die Baumschule Toni Suter?
Wir haben seit jeher mit alten Sorten gearbeitet – und wir weisen die Kund:innen auch darauf hin: Wenn sie beispielsweise einen Gala-Baum wünschen, empfehlen wir gerne auch eine traditionelle Sorte. Wir sensibilisieren aus Überzeugung für die Vielfalt. Denn am besten werden die Sorten erhalten, wenn sie auch genutzt werden. Es braucht immer beides: Die Absicherung in Sammlungen wie dem Edelreiserschnittgarten ist das eine. Die Absicherung auf den Wiesen und Feldern liefert andere, aber ebenfalls wichtige Informationen und Erfahrungswerte.
Welcher Moment im Jahr gefällt dir hier besonders gut?
Wenn ich im August durch den Garten gehe, um Edelreiser zu schneiden, und dabei einen Ast voll Zwetschgen finde, ist das ein sehr schöner Moment (lacht). Oder im Frühling, wenn alles mit viel Kraft austreibt – das liebe ich. Zu diesem Zeitpunkt lassen sich auch die unterschiedlichen Blattqualitäten gut beobachten. Einige haben eher rötliche Austriebe, die Birnen zum Beispiel, einige haben ganz kleine Blätter. Es gibt auch Sorten, die schlafen, die erst zwei Wochen später austreiben. Hier findet sich wirklich die gesamte Vielfalt – komprimiert auf kleinem Raum.
Sortentipps
Gertrud Burgers Entdeckungen im Edelreiserschnittgarten (Bilder oben in der Slideshow)
Pflaume ‘Reine-Claude Diaphane‘
Weiche gelbe und rötlich behauchte Pflaume, welche mit ihrer durchscheinenden Zartheit ihrem Namen alle Ehre macht und schlecht transportfähig ist. Eine wunderbare Frucht für den Hausgarten.
Apfel ’Hansueli’
Ein sehr feiner Tafelapfel zum Lagern. Trägt nicht jedes Jahr regelmässig. Wird mit dem Lagern angenehm gelb und zugänglich.
Birne ’Kleine aus Liesberg‘
Eine den Wildbirnen nah verwandte Birnensorte. Die Frucht ist kaum grösser als eine Kirsche und eignet sich für Saft oder zum Brennen. Eine attraktive Kuriosität und auch Nahrungsquelle für Wildtiere in Garten und Feld.
Finanzierung nur teilweise gedeckt
Erwerbssorten werden im sog. Nuklearstock bei Agroscope komplett krankheitsfrei gehalten und danach in besonderen Reiserschnittgärten kontrolliert gesund gehalten. Das ist mit hohen Kosten verbunden, was sich für den Erwerbsanbau lohnt. Der hier beschriebene Edelreiserschnittgarten mit seltenen, traditionellen Sorten hat nicht dieses hohe Gesundheitsniveau, es ist aber genügend, damit das Vermehrungsmaterial von Baumschulen bezogen werden darf. Für die Verbreitung von seltenen Sorten ist das zentral. Deshalb wird das Projekt unterstützt vom NAP-PGREL, doch nicht alle anfallenden Kosten können damit gedeckt werden. In der Westschweiz (Rétropomme) und in der Südschweiz (Pro Frutteti) gibt es weitere Edelreiserschnittgärten.
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